Vegane Autos: Warum der Innenraum ohne Ledersitze auskommt

Der Trend zu vegetarischer oder veganer Lebensart hält verstärkt Einzug in automobile Innenräume. Nicht nur Tierschützer fragen verstärkt nach Alternativen zu Echtleder. Derweil stehen auch absolut klimaneutrale neue Materialien wie das aus Ananas-Fasern gewonnene Kunstleder Piñatex kurz vor der Serienreife. Immer mehr Menschen suchen nach veganen Autos. Wir erklären, warum und wie der Innenraum ohne Ledersitze auskommt. Von Thomas Imhof

Die Flügeltür des Tesla Model X öffnet sich, der Blick fällt auf eine ganz in „Ultra-Weiß“ daliegende Sitzlandschaft. Die unschuldig wirkende Optik passt zum Material, nehmen Kunden des Elektro-SUVs doch in einem veganen Innenraum Platz. Denn nicht nur die Sitze, auch das Lenkrad und die Türinnenseiten sind in der Basis-Ausstattung mit Synthetik-Leder bedeckt. Nach sanftem Druck der Tierschutzorganisation PETA und kritischen Nachfragen auf der letzten Aktionärsversammlung rang sich der Elektrowagen-Pionier zu einem Auto ohne Tierhäute durch. Und das Imitat besteht den Streicheltest: Die Oberfläche fühlt sich so weich und geschmeidig an, dass das Argument, mit angeblich härterem Kunstleder die vom Kunden gewünschte Kuschel-Haptik nicht erreichen zu können, ab sofort hinfällig ist. Ohnehin bekennen selbst Experten, mittlerweile Leder- und Kunstleder nur noch mühsam unterscheiden zu können.

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Veganer Innenraum als Standard-Ausstattung im Tesla Model X, mit Kunstleder-Lenkrad und weichen Kunstleder-Sitzen

Zum Teil katastrophale Verhältnisse bei Leder-Fabrikanten in Brasilien und Bangladesch haben es gezeigt: Nach der Pelztierbranche könnten die Autobauer als nächstes in den Fokus von Tier- und Umweltschützern geraten. Immerhin geht es um eine Zielgruppe von über 7,8 Millionen Vegetariern (Stand 2015) in Deutschland. Fast eine Million verzichten als Veganer sogar auf Käse, Eier, Milch und andere Produkte mit tierischen Substanzen. Seit 1983 hat sich die Zahl der Fleischverächter hierzulande um das Zehnfache erhöht, und ein Ende ist nicht abzusehen. Die gebetsmühlenhaft vorgebrachte Behauptung, Rinder würden ohnehin für die Fleischproduktion getötet und Leder sei somit nur ein Abfallprodukt, lassen Tierschützer nicht gelten. Damit, so ihr Argument, würde trotzdem die Massentierhaltung unterstützt. 10.000 Menschen haben bereits eine Petition an VW-Chef Matthias Müller unterzeichnet, nach welcher der Konzern auf Kunstleder umschwenken solle. In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA im Auftrag der Tierrechtsorganisation PETA haben sich fast die Hälfte (42 %) der Befragten dafür ausgesprochen, dass Autohersteller standardmäßig leder- und tierfreie Innenausstattungen in ihren Modellen anbieten sollten.

Die VW-Tochter Audi gehört zu jenen Autobauern, die weiter stolz auf ihr edles Leder sind. Allen voran auf das allerdings nur im Topmodell A8 optional angebotene Unikat-Leder. Als Gerbstoff kommt statt des bei Audi ohnehin schon seit 20 Jahren verbannten Chroms ein Mix aus mitteleuropäischen Blättern und Kräutern zum Einsatz. Der Eindruck eines weitgehend naturbelassenen Materials verstärkt die offenporige Oberfläche, die lediglich von einer wasserabweisenden Schutzschicht bedeckt wird. Simona Falcinella, Leiterin des Bereichs Colour & Trim im Audi Design, beeilt sich zu betonen, dass es für jede Audi-Modellreihe auch Alternativen gäbe: Eine schicke Alcantara/ Leder-Kombination und sogar einen Stoffsitz. Letzterer brächte es im A8 jedoch auf eine Bestellquote von an die Null Prozent, räumt sie ein. Audi hat speziell die Verbindung Alcantara innen / Leder außen bei Autositzen im Markt populär gemacht, wobei die Außenflächen ebenso wie das Lenkrad immer noch aus Tierhäuten bestehen. Ein veganes Cockpit lässt also im Zeichen der Vier Ringe noch auf sich warten. Vielmehr sei bei A8 und A7 die Nachfrage nach Leder aktuell sogar aufsteigend, hört man aus Ingolstadt.

Auch der große Sitzhersteller Johnson Controls hat Ähnliches beobachtet: „Bei hochpreisigen Fahrzeugen wird wieder häufiger eine Lederausstattung für die Sitze nachgefragt, Leder ist wieder in, und wird mit Premiumqualität assoziiert, so ein Sprecher auf Anfrage.

Eine Entwicklung sicher nicht zum Kummer von Boxmark, einem der mit Abstand weltweit größten Tierhaut-Vermarkter. Neben Bentley gehören auch Audi, VW, BMW, Opel, Mercedes und Bugatti zu den Kunden der Österreicher. „Leder ist ein Stück Natur und hinsichtlich der Summe seiner Gebrauchseigenschaften unübertroffen. Jede Haut ist einzigartig, mit unzähligen unterschiedlichen Naturmerkmalen. Aufgrund dieser natürlichen Qualitätszeichen ist jedes Endprodukt ein Unikat”, beschwört Sprecherin Sabine Trammer den Mythos vom unschlagbaren Naturprodukt. Angesichts des vielbeachteten Buchs „Das Seelenleben der Tiere“ von Peter Wohlleben klingt die Boxmark-Philosophie, bei Leder handele es sich um einen „nachwachsenden Rohstoff“, jedoch regelrecht zynisch.

Dass es auch im hochpreisigen Segment alternative Ansätze geben kann, zeigt das Beispiel Daimler: Modelle wie der neue Mercedes-AMG GT werden serienmäßig mit der Ledernachbildung Artico, häufig auch in Verbindung mit der Mikrofaser Dinamica, ausgeliefert. Damit wird das Argument, Kunstleder sei spießig oder sogar unsportlich, ad absurdum geführt. Denn Mikrofaser kommt direkt aus dem Motorsport und garantiert Rutschfestigkeit auf Sitzen und am Lenkrad. Auf Bestellung kann jeder Mercedes-Kunde jedoch kostenneutral auch sein Lenkrad mit Kunstlederbezug bestellen.

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Mercedes AMG-GT mit Dinamica Mikrofaser innen, allerdings hier die optionalen Sportschalensitze, der Standardsportsitz ist komfortabler, nicht so schalenartig und hat dann die Mischung Dinamica Mikrofaser innen und Artico Kunstleder außen.

Die bereits 1970 von einem Japaner zum Patent angemeldete Microfaser Alcantara erfreut sich traditionsgemäß bei den sportlichen Porsche GTS-Modellen großer Beliebtheit – aber nicht nur dort. Alcantara ist der Handelsname eines auf Polyester und Polyurethan basierenden Mikrofaservliesstoffs und wird fälschlich gern auch als „Wildleder“ tituliert. In seiner Haptik ähnelt es dem von Mercedes auch im Smart Brabus oder von BMW in einigen John Cooper Works Minis verbauten Dinamica. In Lizenz stellt es seit 1974 exklusiv die Alcantara S. p. A. in Terni (Umbrien) her. Erstes Auto mit Alcantara-Interieur war 1978 der kantige, von Bertone gestylte Fiat-Mittelmotorwagen X 1/9, gefolgt von im Grunde jedem neuen Lancia-Modell.
Die Produktion von Alcantara ist zwar ähnlich aufwändig wie die von Leder, sodass sich keine Preisvorteile ergeben. Dagegen stehen aber erdrückende Vorteile: Die Qualität ist gleichbleibend, es gibt keinen Verschnitt. Das anschmiegsame Material ist alterslos, kratz- und – was Sportfahrer schätzen – rutschfest. Dazu wasserabweisend, feuerfest, antistatisch reinigungsfreundlich, atmungsaktiv, allergieneutral und faltenfrei aufspannbar. Und – ein Plus erneut gerade für Sportwagen – 50 Prozent leichter als Leder tierischen Ursprungs.

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Porsche 911 GTS mit Alcantara innen, aber Echtleder außen

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Porsche Sport-Tex (Stoff innen, Kunstleder außen) im 718 Cayman, allerdings noch seltsamerweise in Verbindung mit einem Leder-Upgrade für Armaturenbrett und Innenseiten der Türen

Ein ebenfalls sehr weiches, aber glatteres Kunstleder ist das unter anderem im Volvo XC60 serienmäßig verlegte Acella der Conti-Tochter Benecke-Kaliko aus Hannover. „Echtes Leder wird heute in der Automobilindustrie fast nicht mehr eingesetzt, weil Kunstleder haltbarer ist und keine Qualitätsschwankungen hat“, weiß Continental-Sprecher Mario Töpfer. „Selbst in vielen Oberklasse-Fahrzeugen sind höchstens noch Teilbereiche in echtem Leder, der Rest ist Kunstleder, vor allem in den Türen, am Armaturenbrett und an den Außenwangen der Sitze.“

Acella glänzt mit einer besonders weichen Haptik, ist alterungs- und abriebbeständiger als Echtleder und daher speziell bei Taxis und Behördenfahrzeugen sehr beliebt. „Das vermeintliche Naturprodukt Leder ist nur schwierig in gleichbleibender Qualität zu bekommen. Auch gibt es weniger Verschnitt“, argumentiert Töpfer. In der Tat: Da eine Kuhhaut keine ideale geometrische Form besitzt und natürliche Fehler wie Kratzer aufweist, fällt je nach Qualitätsanspruch bis zu 30 Prozent Ausschuss an. Die Geruchsprüfung besteht das ohne schwerflüchtige Verbindungen auskommende Acella ebenfalls mit Bravour. Und mit der Variante Acella Eco natural hat Benecke-Kaliko auch noch ein zu über 50 Prozent aus nachwachsenden Rohstoffen bestehendes Kunstleder im Angebot.

Acella® Bezugsmaterial von Benecke-Kaliko
Acella Kunstleder

Aktuell verkauft Volvo dennoch drei Viertel seiner Neuwagen mit Voll- oder Teilledersitzen. Speziell bei den Top-of-the-line Modellen S/V90 und XC90 wird Leder sogar wieder verstärkt beworben. Dennoch ist für Thomas Ingenlath, deutscher Chefdesigner bei Volvo, Leder nicht mehr sakrosankt: „Die Frage, ob wir auch in Zukunft immer zwangsläufig Leder in unseren Luxusmodellen haben müssen, beschäftigt uns sehr. Wir würden die Kunden gerne davon überzeugen, dass es für automobile Innenräume eine Zeit jenseits von Leder gibt.“

Vielleicht kommen aber auch schon bald völlig neue Kunstlederarten zum Zuge: Wie das von der Spanierin Carmen Hijosa am Londoner Royal College of Art entwickelte Ananas-Leder. Das Piñatex (Piña ist im Spanischen die Ananas) getaufte Material wird aus bei der Ernte abfallenden Ananas-Blättern gewonnen. Von philippinischen Bauern angeliefert, wird es in einer Textilfabrik in Barcelona in lederähnliches Material umgewandelt. Hijosa: „Piñatex ist ähnlich stabil wie Leder, dafür aber günstiger, nachhaltiger und tierleidfrei.“ Seit Gründung ihres Start-ups Ananas Aman entstanden bereits Schuhe, Taschen, Stühle, Sofas – und in Zukunft vielleicht auch Innenräume von Autos – aus dem Ananas-Produkt. Audi-Designerin Falcinella hat Proben untersucht und sagt: „Das Material erfüllt noch nicht die hohen Qualitätsstandards von Audi, speziell in Bezug auf die Rissfestigkeit und Farbbeständigkeit.“ Hijosa entgegnet: „Wir sind in Gesprächen mit verschiedenen Herstellern, auch Luxusautobauern. Piñatex ist eine sehr strapazierfähige Faser und hat bereits Riss- und Langzeithaltbarkeitstests bestanden. Doch sind wir noch lange nicht am Ende der Entwicklung. Schuhe und Handtaschen werden schon jetzt mit Erfolg verkauft.“ Ein weiterer Pluspunkt könnte der Preis von 24 Euro pro Quadratmeter sein – im Vergleich zu 27 bis 40 Euro für Leder, so die Designerin.

Neben Ananas Leder könnten auch Materialien wie Hanf oder Stein bald für neue automobile Wohlgefühle sorgen. Auf dem vergangenen Pariser Salon zeigte der französische Zulieferer Faurecia dazu erste Beispiele. In San Francisco entwickelt das Startup MyCoworks mit Hilfe der so genannten Mycelium-Biologie Leder aus Pilzen. Angepeilte Anwendungsgebiete: Hausbau, Raumfahrtindustrie und – auch hier – die Autobranche.

Noch überwiegt speziell für Luxuskunden die Überzeugung, dass echtes Leder ebenso wie echter Pelz in jedem Fall hochwertiger ist. Dass man auf Ledersesseln im Sommer schwitzt und im Winter friert, wird gern ausgeblendet. Oder dass der Mix Alcantara/Dinamica für die Innen- und Kunstleder für die Außenseiten eines Sitzes Kosten spart und Tier- und Klimaschutz dient.

Bei der BMW-Tochter Tochter Rolls-Royce wird in der Spezialabteilung „Bespoke“ neben Leder schottischer Hochlandrinder sogar Alligator- oder Straußenhaut verwendet. Tierschützer werden analog zur Kritik am exzessiven Lederverbrauch – elf Häute für einen Phantom, immerhin noch neun für einen Ghost – mit dem Hinweis „Wir verwenden nur freilebende, ‚glückliche’ Tiere“ leutselig besänftigt.

Dabei verschmäht ausgerechnet die Queen Tierhäute auf royalem Sitzgestühl. Und Autos für Indien legt zum Beispiel Rolls-Royce-Konkurrent Bentley nur mit Samt oder Alcantarabezügen aus. Weil es die dortigen Kunden, so der Journalist Roland Löwisch einmal in der PS-WELT, „ablehnen, auf heiligen Kühen Platz zu nehmen.“

Text: Autogefühl, Thomas Imhof
Fotos: Autogefühl