Weil die brasilianische Regierung die für Anfang 2014 geplante Pflicht zum Einbau eines ABS und von Airbags in Neufahrzeugen eventuell nochmal verschieben will, freuen sich Oldtimer-Fans über das vielleicht nochmals aufgeschobene Ende des am Zuckerhut seit 56 Jahren gebauten VW Bulli. Thomas Imhof kann sich darüber nicht so recht freuen.
Mag sein, dass wir in überreglementierten Zeiten leben. George Orwells Schreckensvision aus „1984“ ist leider in vielen Bereichen bittere Realität geworden. Mag auch sein, dass wir mit autonom fahrenden Autos bald auch noch den letzten Spaß am Autofahren verlieren werden. Wobei Elektroautos daran keine Schuld haben, denn sie machen – wie es gerade der BMW i3 zeigt – durchaus Freude am Fahren. Doch jetzt mal bitte kurz innehalten: Seit 2004 gilt in Europa für alle Neufahrzeuge die Installation eines Anti-Blockiersystems als verpflichtend. Mit gutem Recht: Denn ein ABS verhindert, dass auch bei starkem Bremsen oder auf Fahrbahnoberflächen mit unterschiedlichen Reibwerten die Räder blockieren. Folge: Das Auto bleibt lenkbar und bricht auch nicht aus, der Bremsweg wird deutlich kürzer. Kaum war ABS obligatorisch, sank in Europa die Zahl der Verkehrstoten von 6.613 im Jahr 2003 auf 5.361 im Jahr 2005.
Der schöne Nebeneffekt des ABS war, dass sich dank der dort eingesetzten Sensorik aus ihm fast automatisch das ESP entwickelte. Das war nun in der Lage, zusätzlich einzelne Räder gezielt abzubremsen und so Dreher im Ansatz zu unterbinden. Wie viel der Schleuderwächter wert sein konnte, erfuhr reumütig Mercedes nach dem Elchtest-Desaster mit der ersten A-Klasse. Erst mit ESP war das Auto vor Überschlägen gefeit, genauso wie die ersten Smarts, die vor allem im Schnee gern mal die Rolle seit- oder vorwärts machten. ESP ist seit 2011 ebenfalls bei allen neu homologierten Baureihen Vorschrift, nach einer dreijährigen Übergangsfrist müssen ab dem 1. November 2014 dann auch letzte ESP-Muffel wie der Fiat Panda den Rettungsschirm ab Werk an Bord haben.
Doch im Land der Fußball-WM 2014 sind Techniken, die objektiv Menschenleben im Straßenverkehr retten, offenbar weniger wert als im proaktiv handelnden Europa. Brasiliens Finanzminister Guido Mantega jedenfalls erwägt nun, aus Sorge um eine zu erwartende Preissteigerung für Pkw die für Januar 2014 geplante Einführung der Airbag- und ABS-Pflicht für Neuwagen zu verschieben. Befürchtet wird – und nun festhalten – eine Preiserhöhung der Neuwagen um bis zu 1500 Reais (rund 500 Euro). 500 Euro für ein mit Sicherheit zu rettendes Autofahrerleben – eine recht zynische Gegenrechnung, oder?
Kommt es tatsächlich zu einer Verschiebung der neuen Pläne, könnte das noch mal aufschiebende Wirkung auf das geplante Ende der seit 56 Jahren ununterbrochen laufenden Produktion des VW Bulli in Brasilien haben. Derzeit rollt jedoch schon eine „Last Edition“ des in Brasilien als „Kombi“ bekannten „T2“ vom Band. Ohne ABS und Airbags – Features, die selbst der Offroad-Dinosaurier Land Rover Defender heutzutage seinen Kunden bietet. In der Zweifarben-Lackierung „Rock und Bluse“, Weißwandreifen und blauen Vorhängen samt Schlaufen mit „Kombi“-Logo beschwört der Südamerika-Bulli stilsicher den Geist der späten 60er und 70er Jahre. Als Antrieb fungiert ein braver 1,4 Liter Motor der Baureihe EA 111 mit 78 PS (oder 80 PS bei Betankung mit Ethanol), der den Bus mit maximal 4.800 Umdrehungen pro Minute auf 130 km/h beschleunigt. Auf den blau-weiß gestreiften Sitzen haben insgesamt bis zu neun Passagiere Platz – ein veritabler Samba-Bus also. Doch statt Airbags gibt es ein MP3-Soundsystem mit roten LEDs sowie USB- und AUX-Anschlüsse. Plus eine Plakette am Armaturenbrett mit der Seriennummer des auf 600 Einheiten beschränkten Modells.
Brasilien ist gerade dabei, seine Position als weltweit viertgrößter Automobilmarkt weiter auszubauen. Audi, Honda und Jaguar Land Rover gehören zu jenen Herstellern, die ganz aktuell Pläne zum Bau neuer Werke im Land der Sambas und Favelas bekanntgegeben haben. Da wirkt es geradezu steinzeitlich, mit ABS und Aibags nicht einmmal die rudimentärsten Sicherheitsfeatures gesetzlich vorzuschreiben. Zumal zum Beispiel Volkswagen bis auf wenige Ausnahmen selbst seine kleinen Pkw wie Gol oder Fox bis auf gewisse Basisversionen ohnehin schon etatmäßig mit beiden Sicherheitselementen ausrüstet. Ein ESP ist allerdings erst ab der Golf-Palette aufwärts Standard.
„Volkswagen beachtet vollständig die geltende Gesetzgebung. Das Unternehmen wird jeder neu anzuwendenden Regel für den Automobilsektor folgen“, heißt die wachsweiche Stellungnahme des Konzerns zu den verschwommenen Plänen der Regierung. Doch Hand aufs Herz: Sollte der zugegebenermaßen nostalgisch stimmende „Bulli“ als längstes weltweit noch in Produktion befindliches Modell nach 56 Jahren jetzt tatsächlich auslaufen, geht die Welt auch nicht unter.
Schließlich mussten auch mal der Käfer und der erste Golf – 2003 in Mexiko und im November 2009 in Südafrika – den Weg allen Irdischen gehen.
Und um nur mal die zeitlichen Dimensionen aufzuzeigen: Erstmals 1986 bot Volkswagen ein Auto mit ABS an – den Golf III in der allradgetriebenen Synchro-Version. 1992 folgten Fahrer- und Beifahrer-Airbag, und 1996 verzögerten dann schon alle Golf III ab Werk mit ABS. Und federten ihre Insassen zusätzlich mit Seiten-Airbags ab.
Text: Autogefühl, Thomas Imhof
Foto: Volkswagen do Brasil, Volkswagen Classic