Ist Kunstleder auf Autositzen besser und nachhaltiger als Echtleder für Tier, Mensch und Umwelt?

Viele fragen sich, woher das Leder auf einem Autositz herkommt, wie es sich gegenüber Kunstleder verhält und mit welchen genauen Materialien überhaupt gearbeitet wird. Ist Leder nachhaltig? Ist Leder nur ein Abfallprodukt der Fleischindustrie? Ist Kunstleder nachhaltig? Wie geht es den Tieren, was sind die Umweltauswirkungen? Lange Zeit wurde Leder aus Tierhaut nur für Chauffeur-Sitze verwendet, damit sie gegenüber bequemeren Stoffen langlebiger waren. Leder stand nicht für Luxus. Diese Annahme hat sich dann geändert und lange Zeit stand Leder für Luxus im Automobilbereich. Gerade seit den 2010er Jahren ist jedoch das Bewusstsein für Menschenrechte in der Industrie, Tierschutz und Umweltschutz deutlich gestiegen und Kundinnen und Kunden möchten (und haben ein Recht auf) Transparenz beim Kauf neuer Produkte. Dieser Artikel klärt über alle Aspekte rund um Tierhaut und Kunstleder im Auto auf. Von Thomas Majchrzak

1. Ethische Dimension

Ich habe selber auch Autos mit Sitzen aus Tierhaut-Leder gekauft, weil ich dachte, das gehört sich so. Und es wird ja immer gesagt, dass Leder sei ohnehin nur ein Abfallprodukt der Fleischindustrie. Ich wollte es aber genauer wissen und wirklich erfahren, ob das alles kein Problem ist, wo das Leder herkommt, wie es den Tieren geht, wie es den Menschen in Produktion geht, die Lieferkette nachverfolgen. Mit der Autoindustrie kann man sehr gut zusammenarbeiten, wenn man spannende Features über einzelne Produkte oder Materialien machen möchte. Man gelangt guten Insight in die Technologien und kann die Teile bis zum kleinsten Zulieferer zurückverfolgen. Das wollte ich auch mit dem Thema Leder machen – also habe ich bereits 2014 bei allen großen Herstellern angefragt, ob sie Auskunft geben können, wo das Leder herkommt und ob man sich die Produktion ansehen kann. Antwort: Fehlanzeige. Es wurde lediglich darauf verwiesen, dass man ja nur Abfallprodukte verwende. Also habe ich mich gewundert: Wieso kann ich über die kleinste Schraube im Motor ein einstündiges Feature machen und die Zulieferer besuchen, aber beim Thema Leder bekommt man keinerlei Informationen und die Hersteller wissen entweder selber nicht, woher es kommt oder wollen es bewusst nicht sagen? Das hat mich misstrauisch gemacht. Parallel liefen investigative Recherchen von dekorierten Journalisten, die die Lieferketten bis zu den Lederproduzenten nachvollzogen haben und auch Filmmaterial aus der Produktionen und auch vom Transport mitgebracht haben. Und schnell wurde klar, wieso über das Thema niemand sprechen möchte. Es gibt zum Thema Leder-Herkunft, Tierhaltung, Schlachtung und Umweltbelastung einfach nichts Gutes zu erzählen – sondern nur Abschreckendes. Wenn der Kunde das sehen würde, hätte sie oder er keine Lust mehr auf Leder im Auto. Es ist nicht so, dass Kundinnen und Kunden unterschiedliche Moralvorstellungen haben. Es geht lediglich darum, ob die Informationsgrundlage besteht oder fehlt.

Ethische Fragen muss man immer aus Sicht des Opfers betrachten. Nehmen wir die Behauptung „Leder ist nur Abfall der Fleischindustrie“: Der Kuh kann das herzlich egal sein. Es ist so, als wenn man auf der Straße erschlagen wird, spielt es dann eine Rolle, ob das für das Smartphone oder für das Portemonnaie war? Zu behaupten, eine Milliarden-Industrie lebe nur vom „Abfall“ der Fleischindustrie, ist genauso, als wenn man sagen würde, dass die Steakproduktion nur Abfall der Filet-Produktion ist. Fakt ist: In dieser Industrie geht es darum, einzelne Körperteile von Tieren zu vermarkten und damit möglichst viel Profit zu erwirtschaften. Egal, für welches Körperteil man bezahlt, gibt man als Verbraucher den Befehl, dass die Industrie ihr Werk weiter fortführt.

Darüber hinaus werden in Industrie, in denen Tiere gequält werden, immer auch die Menschen zum Opfer. Sei es bei den Arbeitsbedingungen, toxische Stoffe, und natürlich, was es mit einer Psyche macht, wenn man ständig mit Leid und Tod zu tun hat. Aussteiger berichten häufig noch ihr Leben lang von eine dauerhaften Traumatisierung.

2. Was für Alternativen gibt es?

Das Wichtigste vorab: Mit den modernen Materialien haben Kunden nichts zu verlieren. Sie erreichen den gleichen Luxus und Komfort oder sogar bessere Eigenschaften bei gleicher oder besserer Haltbarkeit mit geringeren Auswirkungen auf Menschen, Tiere und die Umwelt. Es kommt nur immer auf die Qualität an. Natürlich gibt es auch sehr schlechtes und billiges Kunstleder, genauso wie es schlechtes und billiges Tierleder gibt.

Grundsätzlich kann man Stoff, Mikrofaser oder glattes Kunstleder verwenden. Der klassische Material-Ansatz besteht darin, Öl/Kunststoff als Ausgangsmaterial zu verwenden. Ist das aus aktueller Sicht schlecht? Insgesamt enthält ein Kompaktklasse-Fahrzeug etwa 300 kg Kunststoff. Ein Autositz benötigt etwa 5 kg Kunststoff. Der Gesamtanteil an Kunststoff für die Sitze ist also sehr gering und im Moment die effizienteste Art, einen Autositz herzustellen. Ein paar Liter Treibstoff entsprechen im Grunde einem Autositz. Wenn man also Öl/Kunststoff sparen möchten, sollte man eher den Energie-, Treibstoff- oder Heizungsverbrauch sowie andere Autoteile betrachten als den Sitz. Was nicht heißt, dass es hier auch noch Potenzial gibt – dazu später mehr. Auch Tierhaut-Leder kommt übrigens im Auto immer mit einer Kunststoffbeschichtung für die Haltbarkeit.

Thema Haltbarkeit: Die verwendeten Kunstleder Hersteller müssen dieselben strengen Anforderungen in Materialtests erfüllen, und es hat sich gezeigt, dass sie beim Thema Abnutzung die Anforderungen teils sogar im positiven Sinne überschreiten, so die Info von BMW und Toyota.

3. Neuartige Materialien

Langfristig sollten wir natürlich Alternativen für Rohöl finden. Daher können Sitze auch aus recycelbaren Materialien (z. B. aus PET-Flaschen oder alten Fischernetzen) oder sogar einem höheren Anteil an pflanzlichen Materialien hergestellt werden (wie Kiefernöl, Rapsöl oder neuartige Materialien wie Pinatex aus Ananasblättern oder Desertex aus Kaktusfaser oder dem Pflanzenmix Mirum.

Auf Grundlage einer ökonomischen Berechnung wird durch den Verzicht auf Tierhautleder in Autoinnenräumen die Menge an Emissionen (CO2e) um 85 (!) % reduziert
https://www.press.bmwgroup.com/africa-dom-easteurope/article/detail/T0403389EN/on-the-market-from-2023:-bmw-and-mini-models-with-vegan-interiors?language=en – und das ist eine sehr konservative Schätzung, die noch nicht einmal die gesamten Umweltauswirkungen berücksichtigt. Es ist im Moment also das Wichtigste, was man tun kann, um Autoinnenräume nachhaltiger zu gestalten.

Ein gutes Beispiel für Luxus auf höchstem Niveau mit belüfteten, tierfreien Sitzen ist der BMW X7 mit Sensafin:


oder der BMW i7 oder der BMW i5, letzter auch schon mit veganem Lenkrad. Oder der Kia EV9 mit pflanzlichem Ölanteil bei den Sitzen:

Neue Kunstledermaterialien können in jeder Hinsicht überlegen sein, sogar beim Reinigen:

Immer mehr natürliche Materialien kommen auf den Markt:

Eine gute Alternative ist auch Mikrofaser, Alcantara ist ein Hersteller, hierbei handelt es sich um einen Markennamen. Ein weiterer bekannter Hersteller ist z.B. Dinamica, häufig haben die Mikrofaser aber auch eigene Markennamen der Hersteller, etwa Racetex bei Porsche.

4. Die Tierleder-Industrie wehrt sich

Umschwünge durch Technologie oder Ethik sind in der Industrie normal. Unternehmen passen sich diesen neuen Begebenheiten an oder gehen in der Regel unter. Die Bearbeiter von Tierleder könnten sich der Entwicklung anpassen, ihre Erfahrung und Handwerkskunst weiter nutzen, aber einfach das Rohmaterial wechseln. Das ist nicht der Fall. Stattdessen formt die Industrie finanzkräftige Konglomerate, die JournalistInnen und InfluencerInnen unterdrücken und/oder schmieren.

5. Die Spitze des Eisbergs

Um zu sehen, wie Tiere in der globalen Lederindustrie behandelt und transportiert werden, sollte man sich dieses Filmmaterial ansehen:

Als Autogefühl im Jahr 2014 das erste Mal zum Thema Tierleder in der Autoindustrie recherchiert hat, zeigten sich die Hersteller komplett zugeknöpft. Sie geben keinerlei Informationen heraus, wo das Leder herkommt, die die Tiere gelebt haben usw. Seltsam: Man kann zu jeder kleinen Schraube im Motor einen 50-minütiges Feature machen, aber zur Herkunft des Leders gibt es keinerlei Information. Aus gutem Grund. Denn wie schon gesehen, gibt es hier nichts Positives zu berichten. Am Thema Tierleder klebt einfach Blut.

Diese Aufnahmen zeigen authentische Aufnahmen, und das ist gängige Praxis.

6. Die Hersteller wandeln sich

Das Thema Herkunft und Produktion des Tierleders wird weiterhin aus gutem Grund bei den Herstellern ausgeklammert. Auf der anderen Seite gehen die Automobilproduzenten nach vorn und haben sich fast komplett geschlossen dazu entschlossen, Tierleder in den kommenden Jahren aus dem Produktportfolio zu streichen. Es gibt nur wenige, zumeist kleinere Hersteller, die sich dieser Zusage bisher entsagt haben.

Konkrete Beispiele:
– Alle Volkswagen Elektroautos (ID Modelle) sind bereits komplett vegan, d.h. auf Sitzen und Lenkrädern.
– Alle Tesla-Modelle sind komplett vegan im Innenraum.
– Bei Volvo gibt es lediglich Sitze mit Woll-Anteil, Tierleder gibt es gar nicht mehr.
– Polestar bietet Tierhaut nur noch gegen Aufpreis an.
– Bei BMW sind die meisten Modelle mittlerweile in der Standard-Ausstattung mit Stoff oder hochwertigen tierfreien Sitzbezügen (Markennamen Sensatec, Sensafin, Veganza) ausgestattet, Lenkräder folgen und sind bisher nur für den neuen BMW 5er verfügbar.
– Alle neuen MINI Fahrzeuge sind im Innenraum tierfrei.
– Bei Toyota mahlen die Mühlen langsam, aber der größte Autohersteller der Welt hat sich dazu entschieden, nach und nach kein Tierleder mehr anzubieten.
– Renault steigt bis 2025 komplett aus Tierleider in allen angebotenen Modellen aus.
– Alle neuen Dacia-Modelle sind komplett tierfrei.
– Alle neuen Kia-Modelle sind komplett tierfrei und bieten dazu auch noch einen höheren Anteil an nachhaltigen Quellen.

Dringenden Nachholbedarf haben: Mercedes, Audi, Porsche, Mazda, Honda, Hyundai.

Hier haben wir zusammen mit BMW ausführliches Feature erstellt zu allen Nachhaltigkeitsthemen im Auto, das Thema Leder ist hier auch als ein Teil-Aspekt erwähnt.

7. Wie verhalte ich mich als Autokäufer?

Was neue Autos betrifft, kann man sich a) an die hier gezeigte Liste halten und nach den neueren Modellen Ausschau halten. Um sicherzugehen, muss man die Begrifflichkeiten in Konfigurator und Preisliste prüfen und nach dem Begriff Leder suchen, dann sieht man in der Regel, ob dort nur „Leder“ erwähnt wird oder „Kunstleder“ oder Stoff usw. Je nach Ausstattungsniveau unterscheidet sich dies dann auch. Es ist also nicht ganz so einfach für den Kunden, es sei denn, der Hersteller hat sich schon komplett zu einer tierfreien Lösung entschieden. In der Autogefühl-Berichterstattung erwähnen wir stets, wie es bei dem jeweiligen Modell aussieht. Ferner sollte man seinen Autohändler auf die Thematik hinweisen und auch explizit nach dem Material auf Sitzen und Lenkrad fragen.