Erstmals ließ das Konsortium Global NCAP die fünf beliebtesten Indien-Kleinwagen beim ADAC zu Aufpralltests antreten. Die Ergebnisse waren verheerend: Denn für alle – darunter auch den lokal gefertigten Volkswagen Polo – gab es Null-Sterne-Ergebnisse. Der Hauptgrund: fehlende Airbags. Volkswagen reagierte schnell, um einem Imageschaden vorzubeugen. Von Thomas Imhof
Schlimmer zerstört worden wäre wohl nur noch die „Ente“ 2CV von Citroen. Als der Tata Nano, das einmal als „1.500 Euro-Auto“ apostrophierte Billigst-Vehikel aus Indien, mit 64 km/h an der Crashtestbarriere auftrifft, schieben sich das gesamte Armaturenbrett und die Vorderachse weit in Richtung Insassen. Der in Indien für umgerechnet 1.900 Euro angebotene Winzling faltet sich im Vorderbereich komplett zusammen. „Hinterher lag der linke Stoßdämpfer auf dem Knie des Fahrers“, berichtet noch immer mit leichtem Schaudern Alejandro Furas, Testserien-Koordinator und daneben verantwortlich für NCAP-Testreihen in seiner Heimat Lateinamerika. Keine Frage: Auch Airbags oder Gurtspanner- und straffer hätten hier nicht verletzungsmindernd helfen können. „Denn erster Garant ist eine stabile Fahrgastzelle, das haben wir schon 2007 beim Brilliance BS6 aus China gesehen“, weiß Volker Sandner, im ADAC Sicherheitszentrum Landsberg Bereichsleiter für Fahrzeugsicherheit. „Der hatte sogar Airbags serienmäßig an Bord, doch die nutzten ihm im Endeffekt überhaupt nichts.“
Für den ersten umfassenden und unabhängigen Indien-Kleinwagen-Crashtest wurden je zwei Exemplare der fünf Testwagen regulär bei Händlern in Indien gekauft und von dort nach Bayern transportiert. Dort standen zwei Frontalcrash mit jeweils 40 Prozent Überdeckung und zwei Aufprallgeschwindigkeiten von 56 und 64 km/h an. Hauptdarsteller neben dem nur 3,10 Meter langen Tata Nano waren das mit über 260.000 Einheiten jährlich meistverkaufte Auto Indiens, der Suzuki-Maruti Alto 800, und die Vorgängerversion des in Europa gerade neu eingeführten Hyundai i10. Kandidat Nummer 4 war der Ford Figo – im Prinzip eine Version des in Europa bis 2009 gebauten Fiesta, Kandidat 5 der lokal im Werk Pune gebaute Volkswagen Polo. Zusammen repräsentierte das Quintett 20 Prozent des gesamten indischen Automarktes. Ausgewählt wurde von den NCAP-Testern jeweils die Basisversion, was sich speziell im Fall des Ford negativ auswirkte. Denn den Figo gibt es nur in der Top-Version Titanium ab Werk mit zwei Airbags, die drei darunter rangierenden Ausstattungsniveaus haben nur den Lenkradpralltopf als (hartes) Aufprallkissen zu bieten. Auch den Polo bot Volkswagen – zumindest bis zu diesem Test – in Indien ohne Airbags an – denn nirgendwo sonst ist der Basispreis eines Kleinwagens so wichtig wie auf dem Subkontinent.
Denn in dem riesigen Land verfügen 30 Prozent aller Einwohner über nicht mehr als einen Dollar pro Tag, 70 Prozent müssen mit maximal zwei Dollar über die Runden kommen. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes beträgt das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen auch nur 1.127 Dollar (umgerechnet 833 Euro). Auch wenn die Autopreise knapp kalkuliert sind (den VW Polo gibt es für rund 6.000 Euro), ist ein Neuwagen für die meisten Inder unerschwinglich. Und Aufpreise für Airbags fallen deutlich mehr ins Gewicht als etwa in Europa, wo sie seit nunmehr rund 20 Jahren obligatorischer Bestandteil des Sicherheitspakets sind.
Der Suzuki, der Tata Nano und der Hyundai i10 lösten denn auch in beiden Crashszenarien nicht mehr als das Versprechen ein, vier Menschen mit Maschinenkraft von A nach B zu transportieren. Die Bilder der mitlaufenden Hochgeschwindigkeitskameras lassen schaudern. „Der Tata Nano, dessen Aufbau dem des seligen VW Käfers ähnelt, kollabierte im Frontbereich nahezu völlig“, sagt Crashexperte Sandner. „Beim Suzuki waren die Deformationen nicht ganz so hoch, beim Hyundai wäre die Zelle sogar fast heil geblieben, aber es zeigten sich schon Risse.“
Beim Ford Figo und Volkswagen Polo, die ebenfalls „Null Sterne“ kassierten, hätten zwei Luftsäcke zu einem deutlich besseren Ergebnis geführt, sagt Sandner. „Denn hier ist die Karosseriestruktur stabil genug.“ Das weiß natürlich auch Volkswagen, und bot den Testern für einen zweiten Versuch umgehend ein mit Airbags nachgerüstetes Indien-Modell an. Das wurde Mitte Dezember nochmals beim ADAC gegen die Wand gefahren – und erhielt vier von fünf möglichen Sternen. Um PR-Pluspunkte zu ergattern, trat VW Anfang des neuen Jahres dann sogar die Flucht nach vorne an. Und bietet den Indien-Polo ohne Preisaufschlag und ab Werk seitdem nur noch mit Airbags an. Für den neuen Hyundai i10, in Indien Grand i10 genannt, gibt es die beiden Luftkissen ebenfalls – wenn auch nur gegen Aufpreis. Sogar serienmäßig sind sie im Ford Fiesta, dem in Indien oberhalb des Figo angebotenen Modell mit Stufenheckkarosserie.
Global NCAP habe den Polo auch deshalb so kritisch unter die Lupe genommen, weil man einen Vergleich zwischen einem in Indien und in Europa gebauten Modell ziehen wollte, sagt der Uruguayer Furas. „Bei unseren Tests für den südamerikanischen Markt haben wir mehrmals festgestellt, dass Autos aus lokaler Produktion beim Crash deutlich schneller an ihre Grenzen kamen als die optisch identischen Europa-Modelle.“ Als Beispiele nannte Furas unter anderen den Nissan Micra/Nissan March, den Peugeot 206 Plus und den Dacia Sandero, der in Brasilien als Renault Sandero verkauft wird. „Mitunter werden aus Kostengründen Versteifungen oder hochfeste Stähle weggelassen“, nennt Kollege Sandner einen Grund für die abweichenden Testresultate.
Sicherheit hat eben seinen – oft makabren – Preis. Und so wünschen sich nicht nur NCAP-Mann Furas und ADAC Kollege Sandner für Indien und andere „weiße Flecken“ wie Russland, Afrika oder Mexiko eine Regelung à la Brasilien: Dort sind seit Anfang Januar nur noch Neuwagen zugelassen, die mindestens zwei Airbags und ein ABS an Bord haben. Eine Vorschrift, die dem dort fast 46 Jahre lang gebauten VW „Bulli“ T2 den Garaus machte. „Viele für den Export in Indien gebaute Autos erfüllen diese Voraussetzungen bereits“, gibt Rohit Baluja, Präsident des indischen Instituts für Verkehrserziehung (IRTE) zu bedenken. „Es ist also kein Frage des Know-hows, sondern ein Problem der richtigen Förderung. Mit von den Vereinten Nationen bindend vorgegebenen Gesetzen könnte Indien genauso sichere Autos wie Europa und die USA produzieren.“
Max Mosley, Ex-Chef des Automobilweltverbandes FIA und Vorsitzender von Global NCAP, mahnt schärfere Vorschriften an: „Indien ist längst ein großer globaler Markt und Produktionsstandort für viele Kleinwagen. Daher ist es beängstigend zu sehen, dass man hier 20 Jahre hinter den in Europa und Nordamerika üblichen Fünf-Sterne-Ergebnissen hinterherhinkt. Indische Autokäufer können das gleiche Sicherheitsniveau erwarten wie Kunden in anderen Teilen der Welt.“ Ebenso wie die aus dem als autoproduzierendes Land bestens bekannten Mexiko: Dort baut zum Beispiel Nissan unter dem Namen Tsuru noch eine Uralt-Version des vor allem bei Taxifahrern beliebten Sentra B13. Crashtest-Videos von LatinNCAP auf you tube unter dem Stichwort „Nissan Tsuru/Sentra B13 No Airbags“ lassen erahnen, welche tödlichen Gefahren den Insassen drohen.
Über sicherere Indien-Kleinwagen im Crashtest und ebenso stabilere Einsteigermodelle für weitere Schwellenländer würden sich bestimmt auch die immer nur still leidenden Crashtest-Dummys freuen. Erinnert sich Alejandro Furas. „Wir haben den zweiten Tata Nano bewusst als letztes Fahrzeug mit 64 km/h gecrasht. Denn nach einem Unfall in diesem Wagen müssen unsere Dummys eine Woche lang, vor allem im Kniebereich, ‚verarztet‘ werden“ – bis sie wieder fit sind zum nächsten Einsatz im Dienste der Sicherheit.
Text: Thomas Imhof, Autogefuehl
Fotos: Global NCAP