Viele Deutsche haben in diesem Jahr noch keine Schneeflocke gesehen, der Winter 2013/2014 ist praktisch ausgefallen. Fällt damit auch die alte Regel „von O bis O“, von Oktober bis Ostern, seine Winterreifen aufzuziehen? Zumal in einigen Tests Winterreifen bei Nässe auch schon mal schlechter abgeschnitten haben als Sommerreifen. Nein, so der Reifenhersteller Michelin, es gäbe viele Argumente für den Reifenwechsel, die mit Schnee gar nichts zu tun haben. Und man konzentriert sich nun auf die Nässe-Problematik. Von Holger Majchrzak
Der Reifenhersteller Michelin entwickelt pro Jahr 10.000 neue Reifenmischungen, von denen 500 in die Prototypenphase kommen. Ein großer Forschungsaufwand, den man sich für Winterreifen wegen des Klimawandels sparen könnte, könnte man annehmen. Aber der Winterreifen ist nicht nur für Phasen grimmiger Kälte, sondern schon kurz unterhalb von zehn Grad im Vorteil gegenüber Sommerreifen. Und in rund der Hälfte des Jahres wird es in Deutschland im Schnitt nicht wärmer.
An diesen Tagen kann der Winterreifen dann seine Trümpfe in Sachen kürzerer Bremsweg, bessere Beschleunigung und stabilere Kurvenfahrt ausspielen. Denn auf Nässe verdoppelt sich das Unfallrisiko, auf Schnee vervierfacht es sich, auf Eis geht man ein zehnfach höheres Risiko ein. Für diese Fälle optimierte Reifen sind also alles andere als ein Luxus.
Die wenigsten Autofahrer, es sei denn sie sind ständig im hochalpinen Raum oder in Lappland unterwegs, haben dabei sehr häufig mit Schnee und Eis zu kämpfen. Ihr Feind ist die winterliche Nässe. Sommerreifen verhärten bei Kälte und ihnen fehlt dann schnell der Grip. Allerdings standen Winterreifen auch schon häufiger generell in der Kritik, bei Nässe nicht optimal zu funktionieren. Michelin zum Beispiel hat jetzt auf die spezielle Nässe-Problematik reagiert und den neuen Winterreifen Alpin 5 besser als die Vorgänger darauf eingestellt. Dafür wurde bewusst in Kauf genommen, dass der Reifen fünf Prozent seiner Langlebigkeit verliert, sich also etwas schneller abnutzt.
Bei der Winterreifenkonstruktion müssen die Reifenhersteller mehrere Zielkonflikte lösen. Je langlebiger der Reifen ist, desto weniger Haftung hat er auf nasser und trockener Fahrbahn. Ein langlebiger Reifen ist häufig auch wenig energie-effizient. Sehr gute Haftung auf Schnee und Glatteis heißt in der Regel Probleme auf nassem Belag. Winterreifen sind offensichtlich eine Wissenschaft für sich. Obwohl den meisten Autofahrern diese Fakten unbekannt sein dürften, tun drei Viertel aller Fahrer bisher das Richtige – sie setzen bei Winterreifen auf die Produkte von Premium-Herstellern oder Reifen des mittleren Preissegments, die gute Kompromisse bei den genannten Zielkonflikten schaffen. Nur jeder vierte in Deutschland verkaufte Winterreifen stammt aus dem Billig-Sortiment.
Reicht denn nicht aber ein Ganzjahres-Reifen aus für die wenigen kalten Wintertage? Pierre Ehnis, Produkttechnik-Experte bei Michelin, hält nichts von dem 12-Monatsreifen, denn er sei im Winter schlechter als die Winterreifen, im Sommer schlechter als die Sommerreifen, also eigentlich immer die schlechteste Lösung. Michelin habe daher gar keine Ganzjahresreifen im Programm.
Zu beachten bei der Reifenwahl sind auch gesetzliche Regelungen. Europa ist dabei ein wahrer Flickenteppich, eine einheitliche Regelung fehlt. Aber in vielen Ländern gilt Winterreifenpflicht; Verstöße können Bußgeld kosten und auch die Versicherung prüft, ob falsche Bereifung Unfallursache gewesen sein könnte.
Also Winterreifen, obwohl es keinen richtigen Winter mehr gibt? Keiner käme ja auf die Idee, jetzt die Heizung aus Wohnung oder Haus zu reißen. Es kommt der Tag, an dem man froh ist, den richtigen Reifen aufgezogen zu haben.
Text: Autogefühl, Holger Majchrzak
Fotos: Michelin
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